Peter Struve und die Polytechnische Universität
Maria Zhukova

1906 wurde Struve an das Polytechnische Institut des Kaisers Peter des Großen (so hieß damals die Polytechnische Universität) eingeladen. Anfangs unterrichtete er Betriebsökonomie und Handelsökonomie.

Wie war die Atmosphäre an dieser damals noch sehr jungen Bildungsanstalt, die 1899 nach der Verordnung des Finanzministers Sergej Juljewitsch Witte gegründet wurde?

Wie könnte man die Rolle von Struve für die Polytechnische Universität und umgekehrt – der Polytechnischen Universität für Struve – beschreiben?

Roman Panov
Roman Panov

Nach Struves Erinnerungen war der Nutzen von seiner Lehrtätigkeit tatsächlich beidseitig. In der "Rede gehalten am 1/15 Oktober 1927", zum 25. Jahrestag des Polytechnikums (das Institut wurde am 2. Oktober 1902 offiziell geöffnet) macht Struve ein wunderbares Eingeständnis:

Meine Lehrtätigkeit wäre ohne freundliche Unterstützung von A.S. Posnikow , M.M. Kowalewskij, A.A. Tschuprow kaum möglich gewesen. <...> Und ohne Lehrtätigkeit wäre der Großteil meiner Forschungsarbeit gar nicht durchgeführt worden .

Die Kombination aus theoretischen und praktischen Unterrichtseinheiten war eine Besonderheit im Lehrplan der Polytechniker. Ein großes Verdienst bei der Vorbereitung der neuen Generation der angewandten Ökonomen und Betriebswirte galt Struve. Er schätzte den Freiheitsgeist des Instituts sehr hoch, legte einen großen Wert auf die produktive Zusammenarbeit zwischen Studierenden und Dozenten und trug dazu bei, um Studierende an die Forschungsarbeit anzuschließen. Unter tätiger Mitwirkung von Struve kam es in der Wirtschaftsabteilung zur Veröffentlichung studentischer Arbeiten .

«Die wertvollste Gabe, die die Universität über die anderen Bildungsanstalten stellt, ist die wissenschaftliche Selbstverwaltung», —
gestand Struve lebensklug in seinem Jugendtagebuch .

Solches Verständnis des Universitätsgeistes behielt Struve auch in den Erwachsenenjahren, während seiner Lehrtätigkeit. Einer seiner Studenten Boris Kadomzew, der das Institut 1908 mit dem Titel des Doktors der Wirtschaftswissenschaften absolviert hat, erinnert sich:

Es war kaum denkbar, einem begabteren und vielseitiger ausgebildeten Menschen zu begegnen als Struve. Zu jeglichen Fragen der Studierenden wurde immer ein wertvoller Ratschlag oder eine Auskunft gegeben. Im Umgang mit Studierenden zeigte er nie seine Überlegenheit; im Gegenteil, er hörte aufmerksam der Meinung jedes Studierenden zu <...> Studierende sahen in ihm einen Leiter, der nicht darauf eingestellt war, ihnen seine eigene Meinung oder Theorie aufzudrängen, sondern im Gegenteil, sie dabei unterstützte, ihren eigenen Weg anzubahnen. Um ihn herum bildete sich nicht nur ein Gelehrtenkreis, sondern eine ganze Wirtschaftsschule. <...> Sein praktischer Unterricht war ein Laboratorium, wo das Verständnis der ökonomischen Erscheinungen des menschlichen Lebens entwickelt wurde .

Die fruchtbare Wirkung der Lehrtätigkeit auf die wissenschaftliche Karriere von Struve, die weiteste Sphären der Geisteswissenschaften eingeschlossen hat, ist unbestritten. Gerade in den Jahren seiner Tätigkeit im Polytechnikum schreibt Struve sein Hauptwerk «Wirtschaft und Preis» (1913, 1916). In diesem Werk wird, in Semen Franks Worten, die «klassische», d.h. abstrakte politische Ökonomie überwunden und «eine neue Art der verallgemeinernden Wirtschaftstheorie geschaffen, die auf der Gründung empirischer Gesetzmäßigkeiten des wirtschaftlichen Lebens basiert» . Seit 1906 tritt Struve als Redakteur der literatur-politischen Monatszeitschrift "Russkaja mysl"/"Russischer Gedanke" auf; 1909 nimmt er als Herausgeber am berühmten Sammelband «Vechi»/«Die Wegzeichen» teil, der auch seinen eigenen Aufsatz «Intelligenz und Revolution» beinhaltet.

Maria Zhukova

Im Erdgeschoss des Hauptgebäudes, in der historischen Porträtgalerie der Universitätsmitarbeiter, ist auch das Porträt von Struve zu sehen. Sind irgendwelche Spuren von Struve in den Wänden der Polytechnischen Universität zu finden? Zum Beispiel, Fotografien aus den damaligen Zeiten, authentische Gegenstände oder konkrete Orte am Territorium, von denen man mit Sicherheit sagen könnte, dass sie Struve gedenken?

Roman Panov

Zur Dauerausstellung unseres Museums gehört ein Foto, das in der Aula (heute Weißer Saal) im Jahre 1912 zum 10. Jahrestag der Eröffnung des Instituts gemacht wurde und Absolventen und Dozenten der Ökonomischen Abteilung des Polytechnikums abbildet.

Der dritte von rechts in der unteren Reihe ist Peter Struve.
Weißer Saal der Polytechnischen Universität. Wie Sie sehen, hat sich das Interieur des Saals seit der Zeit kaum verändert.

Interessant in dieser Hinsicht ist das «Kurze Nachschlagewerk für Polytechnikstudenten» (1911). Es sollte das Leben der Erstsemester erleichtern und sie über alle nötigen Kenntnisse zum «Leben in Lesnoe» (Stadtteil, früher ein Vorort, wo sich die Polytechnische Universität befindet —M.Zh.). Auf Seite 8 steht geschrieben, dass Struve zum «Personalbestand des Instituts» gehörte und als Dozent am Lehrstuhl für politische Ökonomie tätig war. Die Abkürzung «K.S.» vor dem Namen bedeutet "Kolleschskij sowetnik«/dt. Kollegienrat — ein Zivilbeamtenrang der VI. Klasse. Seinen ersten wissenschaftlichen Grad des Magisters (der dem heutigen Doktorgrad entspricht) erlangt Struve 1913 an der Universität Moskau für den ersten Band seiner Untersuchung «Wirtschaft und Preis». Seine Dissertation auf die Erlangung des Doktorgrades der politischen Ökonomie und Statistik verteidigt Struve am 18. Februar 1917 an der Juristischen Fakultät der Universität des Heiligen Wladimir in Kiew . Interessanterweise haben seine bibliophilen Vorlieben wesentlich zur Entstehung dieses Werkes beigetragen. Petersburger Buchhändler Fedor Schilow erinnert sich daran , dass Struve bei ihm das Hauptarchiv des Büros von Grafen Stroganow erworben hat. Das Archiv beinhaltete Informationen zur Wirtschaftsführung in den großen Landgütern in den 1830—50er Jahren und wurde in seiner Dissertation verwendet. .

Das Nachschlagewerk für Polytechniker, Struve wird auf Seite 8 erwähnt.

Man könnte vermuten, dass ausgerechnet im Plenarsaal des Großen Rates, dessen Interieur mit authentischem Möbel aus dem Anfang des XX. Jhs. bis heute erhalten geblieben ist, wurde Struve zum Dozenten des Lehrstuhls für politische Ökonomie am 14. Mai 1908 erwählt und dann am 15. Januar 1914 zum extraordinären Professoren.

Wenn man das Hauptgebäude der Universität über den Haupteingang verlässt und sich in die der Metrostation «Politechnitscheskaja» entgegengesetzte Richtung begibt, sieht man nach einigen Gehminuten auf der rechten Seite ein vierstöckiges Ziegelsteinhaus hinter den hohen Bäumen, H-förmig im Grundriss. Das ist das so genannte «Erste Professorenhaus» (Politechnitscheskaja-Straße 29).

«Das erste Professorenhaus» (Politechnitscheskaja-Straße 29)

Hier hatten seit 1903 Professoren und Laboranten des Instituts ihre Wohnungen. 1916 bekam auch Struve mit seiner Frau Nina Aleksandrowna Gerd (1863–1943) hier eine Wohnung. Die genaue Wohnungsnummer der Familie Struve bezeugt mindestens ein Archivdokument, das in der Handschriftenabteilung der Nationalbibliothek der Ukraine aufbewahrt wird: Struve steht auf der Kandidatenliste in die konstituierende Versammlung vom Kiewer Bezirk (zur Unterstützung des außerparteilichen Blocks der russischen Wähler von Wasilij Witaljewitsch Schulgin), wo auch seine genaue Petrograder (so hieß die Stadt von 1914 bis 1924 — M.Zh.) Adresse angegeben ist: «Sosnovoe, Politechnitsch[eskij] Institut, Wohnung 75» . Aber die Beziehungen zwischen Struve und Schulgin sind schon eine andere Geschichte.

Für uns ist es aber nicht uninteressant, dass sich ausgerechnet in dieser Wohnung (ihre genau Lage soll noch festgestellt werden) bis in das Jahr 1919 Struves Privatbibliothek befand.

«Schützen Sie die Bibliothek von Struve, die sich im Polytechnischen Institut befindet, vor Ausplünderung. Reichen Sie das Wertvollste an die Öffentliche Bibliothek, den Rest dem Polytechnischen Institut...»
telegraphierte Lenin am 13. Januar 1919 an den Leiter der Bibliotheksabteilung des Volkskomissariats für Bildung A.P. Kudrjawzew.