Über die erste Privatbibliothek von Peter Struve
Maria Zhukova

Den Beziehungen zwischen den beiden leidenschaftlichen Marx-Lesern — Lenin und Struve — sind einzelne Untersuchungen gewidmet.

Bezeichnenderweise war Lenins Anteilnahme auch für das Schicksal von Struves Privatbibliothek entscheidend. Lenins Telegramm war eine Art «Schutzbrief» für diese Büchersammlung. Zur sowjetischen Zeit erregte die Tatsache, dass Lenin die Bibliothek benutzt haben könnte, besondere Aufmerksamkeit der Mitarbeiter des Instituts für Marxismus-Leninismus. Sie suchten in den Büchern nach Anmerkungen, die mit Wladimir Uljanows Hand gemacht werden könnten. Was wäre an dieser Bücherkollektion noch interessant?

Nina Suratova

Sie ist außerordentlich mannigfaltig und enthält Ausgaben aus sehr unterschiedlichen Epochen und Wissensrichtungen: das römische Zivilgesetzbuch «Corpus Juris Civilis», veröffentlicht 1688 in Frankfurt, findet sich Seite an Seite mit den Anweisungen zur Seidenzucht und Anlegung von Maulbeerbaumplantagen aus dem 18. Jahrhundert.

In der Bibliothek findet man den «Oeconomicus» des altgriechischen Historikers Xenophon, herausgegeben 1734 in Hamburg, den «Abriss der Naturphilosophie» von Lorenz Oken aus dem Jahre 1805 und einen Reisebericht des russischen «Philosophen der Technik» Peter Engelmeyer «Paris-Moskau mit einem Automobil», veröffentlicht 1909.

Париж-Москва на автомобиле
«Paris-Moskau mit einem Automobil» von Peter Engelmeyer

In der er polnischen Sprache gibt es einen «Plan Miasta Warszawy i ocolic», daneben «The period of the industrial revolution» von Arthur Jones und Belletristik des heute vergessenen Oleg Mirtow —unter diesem Pseudonym publizierte die russische Schriftstellerin Olga Emmanuilowna Negreskul (1874-1939).

Plan Miasta Warszawy i ocolic
«Plan Miasta Warszawy i ocolic»

Diese Vielseitigkeit der Bücherkollektion zeugt vom weiten Interessenkreis ihres Besitzers, vom Enzyklopädismus seiner Kenntnisse, was für die Intellektuellen der damaligen Zeit typisch war.

Freunde und Gleichgesinnte von Struve trafen sich in der Wohnung bei Tugan-Baranowskis, in der Familie von Michail Iwanowitsch, einem berühmten Ökonomen, und seiner Frau Lida. An diese Treffen erinnert sich in ihren Memoiren Ariadna Tyrkowa-Williams, indem sie die ungeheuerliche Gelehrtheit der Teilnehmer bewundert:

«An dem Ort, bei Lida, bin ich ebenfalls das erste Mal Struve begegnet. <...> Ich war eine der wenigen, die sich getraut hat, kritische Fragen zu stellen, zu zweifeln. Aber was hatte ich mit diesen Lesewürmern zu streiten. <...> Sie zitierten ununterbrochen, wälzten im Kopf die Auszüge aus Marx und Engels, als ob es die Zaubermelodien von Puschkin wären, bezogen sich auf Franzosen, manchmal auf Engländer, am meisten auf Deutsche, sie nannten Schriftsteller, deren Namen ich nie gehört habe
Maria Zhukova

Während meiner eher kurzfristigen Forschungsarbeit in der Bibliothek ist mir aufgefallen, dass die Bücher ganz viele Aufschriften enthalten — Widmungen der Autoren, aber auch eigenhändige Eintragungen von Struve selbst. Könnten Sie vielleicht mehr dazu sagen?

Nina Suratova

Viele Ausgaben aus der Struve-Kollektion zeichnen sich tatsächlich durch diverse handschriftliche Markierungen aus, die dazu beitragen, die «Lebensgeschichten» einzelner Bücher verfolgen zu können. Widmungen können Licht auf die Beziehungen zwischen dem Autor und dem Besitzer des Buches werfen, ihre Eigenartigkeit gibt die Etikette und die Verhaltensnormen in den literarischen Kreisen der Epoche wider. Eigene Aufschriften von Struve leisten einen neuen Beitrag zum Verständnis seiner wissenschaftlichen Arbeit, decken aber auch seine Charaktereigenschaften auf. So enthalten die Privatstempel von Struve und seine Exlibris nicht immer die darin vorgesehene Angabe der Bandnummer im Rahmen der Gesamtbibliothek.

Diese fehlt zum Beispiel auf der Ausgabe von «Kapital» aus dem Jahre 1894.

Карл Маркс «Капитал»
“Das Kapital” von Karl Marx, fehlende Bandnummer auf dem Privatstempel von Struve.

Wenn man in den Büchern von Struve blättert, stößt man oft auf seine auf den Buchrändern fixierte Überlegungen: Mal findet er einen Druckfehler in der russischen Marx-Übersetzung, mal bezweifelt er (voraussichtlich Struve!) die Richtigkeit der von Marx angeführten Formel und überprüft am Buchrand selbständig die Lösung.

Карл Маркс «Капитал»
“Das Kapital” von Karl Marx
Карл Маркс «Капитал»
“Das Kapital” von Karl Marx (russische Übersetzung)

In den Büchern findet man zahlreiche Aufschriften auf Deutsch, das Struve angeblich genauso gut beherrschte wie Russisch.

Wir hoffen sehr, dass das laufende Projekt zur Privatbibliothek von Struve eine Fortsetzung findet. Das würde uns zum einen Möglichkeit geben, den fremdsprachigen Bestandteil der Bibliothek zu katalogisieren, der aus 3417 Ausgaben (3956 Bände) in der deutschen, französischen, englischen, polnischen, aber auch altgriechischen und lateinischen Sprache besteht. Zum anderen könnten wir im Rahmen des Projekts eine sorgfältige philologische und historisch-kulturelle Analyse der Widmungen und Marginalien durchführen.

Diese Untersuchung der Struve-Kollektion von der materiellen Seite trägt der Geschichte des Papierbuches, das in der Epoche der aufschwingenden digitalen Technologien zur Archaik und Rarität zu werden droht, Rechnung. Gleichzeitig sind es eben die Digitaltechnologien, die eines der Konservierungsmittel des seltenen Bücherbestandes darstellen. Sie helfen — wenn auch phantomhaft — den Umschlag und die Druckschrift, das Papier und die darauf geprägten Schriftzeichen als Unikate der geistigen Kultur dem Verschwinden zu entreißen.